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Sturmflut 1962

315 Menschen dem Götzen Hafen geopfert

Beim Verfassen dieser Seite jährt sich die Sturmflut zum sechzigsten Mal. Aus diesem Anlass sind Gedenkfeiern und Beiträge in Presse und Funk zu erwarten, die wie bei früheren Gedenktagen das Ereignis auf Hamburg, die wenigen Tage der Katastrophe, und den "Herrn der Flut" Helmut Schmidt einengen. In der Flut dieser Erzählungen geht die Frage unter, warum Hamburg so schlecht vorbereitet war im Vergleich zu den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen. Die Flut prallte mit derselben Wucht auf alle Deiche, jedoch starben dadurch in Hamburg 315 Menschen, in den anderen drei Ländern zusammen "nur" 28.

Keine Priorität für Deiche

Nach dem Krieg wurden Wohnungen, Industrie und Hafenanlagen, welche die Alliier­ten zerbombt hatten, entweder rekonstruiert oder neu erbaut. Durch Flüchtlinge wuchs die Bevölke­rung von 1,71 Millionen in 1939 um sieben Prozent auf 1,84 Millionen im Jahre 1962. Die Zunahme in den sturmflutgefährdeten Marschgebieten war deutlich höher als in den trockenen Stadtteilen der Geest. Aus zerbombten Stadtteilen wa­ren Menschen in Kleingärten und unbesiedelte Gebiete geflohen und hatten sich dort behelfsmäßig eingerichtet – vor allem im nächstgelegenen Marschland. "Ein Dach über dem Kopf" hatte zunächst absolute Priorität, aber dann hätte sich der Senat auf die bewährte Weisheit besinnen müssen: "Sicherheit geht vor Wohnungsbau" (der Chef der Bergedorfer Wasserwirtschaft Uwe Wehling bei seinem Abgang in den Ruhestand Dezember 2021).

1953 hatte ein Warnschuss aus dem Mutterland des Deichbaus die ganze Nordseeküste aufgerüttelt. Vom 31. Januar auf den 1. Februar 1953 waren England, Belgien und die Niederlande von einer schwe­ren Sturmflut heimgesucht worden. Insgesamt ca. 2.400 Tote waren zu beklagen, davon 1.835 in Holland ( http://de.wikipedia.org/wiki/Flutkatastrophe_von_1953 ). In den deutschen Küstenländern zog man die Konsequenz, die Deiche nicht nur instand zu setzen, sondern auch mit 6,50 m neu zu bemessen. In Hamburg ließ man sich Zeit. Dazu notierte die Baubehörde Hamburg in ihrem Tätig­keitsbericht 1955/1956/1957: "Zur Wiederherstellung der Deichsicherheit wurden insgesamt 15 700 lfdm (von 104 km, d.Verf.) erhöht und verstärkt … Obwohl die errechnete Sollhöhe +6,50 m N.N. beträgt, wurde die fertiggestellte Strecke nur auf +5,65 m N.N. erhöht (die seit 1825 geltende Höhe, d. Verf.). Dieses ist vertretbar, weil nach der Planung durch die Hafenerweiterungen und die Schaf­fung von Industriegelände Teile der Wehrdeiche nicht mehr nötig sind." Schlimmer noch, es zählten aufgehöhte Hafenflächen nicht als Deich. Die Aufhöhung am Spreehafen in Wilhelmsburg (fälschlich "Klütjenfelder Deich") war ein derartiger Fall, der zu den schlimmsten Über­flutungen führte und anteilig die meisten Todesopfer forderte: "Zwischen dem Spreehafen und der Harburger Reichsstraße liegt das aufgehöhte Berliner Ufer. ... Die Höhe dieses Erdkörpers, der Wilhemsburg vor Hochwasser schützt, beträgt zum Spreehafen hin +5,40 m NN ... Eine Deichunterhaltungspflicht und eine Deichaufsicht bestehen nicht." (Ausschuss von Sachverständigen).

Es wurden weiter Wohnungen im Marschland gebaut. Der "Aufbauplan" von 1960 ging von einem Einwohnerzuwachs auf 2,2 Mio. aus. Behelfsheime waren nicht mehr vorgesehen, so auch auf Waltershof. Das Gebiet war schon vor dem 1.Weltkrieg zur Hafenerweiterung ausgewiesen, doch wurde nur das Hafenbecken ausgehoben und das Land notdürftig umwallt. 4.000 Wohnungslose nutzten die Brachfläche behelfsweise. 43 Bewohner starben  durch die Sturmflut.

Der Ausschnitt des Aufbauplans weist den ganzen Süderelberaum als Hafensuchgebiet und damit als nicht ausreichend durch Deiche gesichert aus. Die Hafengrenzen wurden erst mit dem Hafenerweiterungsgesetz 1961 festgelegt. Erst dann wurde die neue, aufzuhöhende Deichlinie bestimmt. Die Sturmflut erleichterte die Aufgabe enorm, da die gesamte Alte Süderelbe von der Tide abgetrennt wurde. Im Schutz der hohen Deiche am Mühlenberger Loch und an der Süderelbe konnten Maßnahmen der Hafenerweiterung wie die Aufhöhung von Industriegebiet für die Aluminiumwerke, das Containerterminal Altenwerder, die Autobahn und den Schlickhügel Francop vorgenommen werden.

aufbauplan_hafensuch.jpg

So schlimm kann's doch nicht werden, oder?

Dass die Ertüchtigung der Sturmflutschutz-Bauwerke nicht von heute auf morgen zu schaffen war, kann man dem Hamburger Senat nicht zum Vorwurf machen. Selbst der "Delta-Plan" der Niederlande war erst nach vielen Jahren fertig gestellt.Zum Vorwurf gereicht, den Sturmflutschutz bewusst hintenan gestellt zu haben, weil man ja "Make Hamburg great again" im Kopf hatte. Der Platz im Kopf der Herren der Stadt war zu eng, um sich vorzustellen, was zu tun sei, wenn die Jahrhundertflut früher käme als der Name sagt. In den Nachbarländern war man klüger, vorsorglicher und menschlicher.

https://de.wikipedia.org/wiki/Sturmflut_1962

In Bremen hatte der Senat einen Katastrophenschutzplan aufgestellt, der Evakuierungen einschloß (Evakuierung ist ein verfassungswidriger enteignungsgleicher Eingriff). Obwohl60 km von der Nordseeküste entfernt, bezog man die Warnung des Deutschen Hydrographischen Instituts auch auf  Bremen-Stadt. Notunterkünfte wie Turnhallen wurden vorbereitet, und ab 21 Uhr des 16.2. (Freitag) wurden gefährdete Gebiete geräumt, insbesondere Behelfsheimsiedlungen. Als gegen 1 Uhr des 17.2. (Samstag) die Deiche brachen, starben 7 Personen, die ihre Hütten nicht hatten verlassen wollen. In Hamburg lautet die wiederkehrende Ausrede, das DHI habe nur von "Nordseeküste" gesprochen. 315 Tote - ein Mißverständnis?

Innerhalb der hamburgischen Behörden wurde durchaus auf die Warnungen reagiert und die üblichen Institutionen alarmiert, Feuerwehr, Deichverbände, Versorgungsbetriebe, Hafenbehörde usw. Polizeidirektor Leddin bildete einen Katastrophenstab, und er rief sogar die Bundeswehr zu Hilfe. Das war in allen Bundesländern geschehen, und schon in der Nacht waren deutsche, englische und amerikanische Einheiten im Einsatz. Was in Hamburg nicht funktionierte, war die Warnung der Bevölkerung, die im Schlaf überrascht wurde.

Trotzdem ging keine Welle der Empörung durch die Stadt. Das "Hamburger Abendblatt" fragte: "Warum gab es keine Warnung? ... drei Tage nach der verheerenden Sturmflut mehren sich kritische Stimmen, die die Frage nach einer möglichen Schuld stellen". Der "Spiegel" untersuchte am 27.2. kritisch den organisatorischen Ablauf  in den  Behörden. Dann hörten die Fragen auf.

Nach zwei Tagen lief der Hafenbetrieb wieder normal, berichtete das "Hamburger Abendblatt" am 19.2..

Am 26. Februar versammel­ten sich 150 000 Menschen zur Trauerfeier auf dem Rathausmarkt und lauschten ergreifenden Reden. Am folgenden Tag erging eine "Mitteilung des Senats an die Behelfsheimbe­wohner: 1. Wer sein Behelfsheim aufgibt, ... bekommt ... eine Pauschalentschädigung von 2500 DM ...3. In den nachstehend aufgeführten Behelfsheim­gebieten kann ein weiteres Wohnen nicht mehr verantwortet werden... 30 namentlich genannte Gebiete. Diese Behelfsheimgebiete werden auf Kosten des Senats abgeräumt. Die früheren Bewohner kön­nen bis zum Beginn der Räumungsaktion ... ih­nen gehörende Gegenstände bergen. ...". Die geschockten Be­helfsheimer wehrten sich nicht, auch nicht gegen die dürftige Entschädigung. Wie zweckmäßig das Vorgehen war – wiewohl es brutal erscheint – zeigt sich in der Tatsache, dass der Hafen Waltershof ge­rade rechtzeitig fertig wurde, als 1968 das erste Containerschiff ihn anlief. Wenn man sich an Al­tenwerder erinnert, wo es Jahrzehnte dauerte, bis die letzten Bewohner einsahen, dass der Senat mächtiger ist als jede Sturmflut, muss man zuge­ben, dass der Senat die Chance "Sturmflut" schlau genutzt hat.

Legendenbildung

Am Morgen des 17. Februar erfuhr Polizeisenator Helmut Schmidt per Anruf, was in der Nacht passiert war, und fuhr ins Polizeihauptquartier, wo er um 6:45 Uhr eintraf und einen Haufen "aufgeregte Hühner" vorfand.

Von Beginn an überlagerte das Medienereignis die Aufklärung des Geschehens. Vor allem Helmut Schmidt fütterte den Bedarf nach einem Heldenepos. Schmidt>Anschnauze< brachte die verbeamteten Bedenkenträger und Bürohengste auf Trab, das passte zum Vorurteil von Journalisten und Lesern.

Der Historiker Helmut Stubbe da Luz, Dozent an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, stellte 2018 eine Ausstellung "Große Katastrophen in Hamburg" zusammen (Napoleonische Besatzung 1813, Großer Brand 1842, Cholera 1892, Bombardierung 1943 und Sturmflut 1962). Ausführlich deckte er die Widersprüche zwischen den Schilderungen Helmut Schmidts und den tatsächlichen Ereignissen auf. Aber wehe, als er das in der Hamburger Morgenpost sagte. Meik Woyke, Vorstand der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung, wies seinen älteren Kollegen zurecht über das "kleine Einmaleins historischer Betrachtungen", denn "fragwürdige Thesen ersetzen nicht die genaue und differenzierte wissenschaftliche Analyse". Da disqualifiziert sich Herr Woyke selbst, denkt sich der Nicht-Hamburger. Aber in Hamburg gilt die hamburgische Geschichtsschreibung.

"Dass die Deiche brechen könnten, hatte niemand für möglich gehalten". Mit dieser platten Lüge eröffnete die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt ihre Ausstellung zum 50sten Jahrestag der Sturmflut 1962. Nein, nach 1953 musste das jeder für möglich halten, der politische Verantwortung trug, s.o.. Selbst Jahrzehnte später sagen die verantwortlichen PolitikerInnen über die Opfer, höhere Gewalt habe sie getötet (Pech gehabt), nicht Fehler der Führer der Stadt. Denn siehe, ein Senator hat heldenhaft Schlimmeres abgewehrt. Flankierend dienen Augenzeugenberichte, weil sie immer ein gutes Ende für den Zeugen nehmen, der möglichst noch einen Nachbarn gerettet hat, und nicht den Dank an den Überhelden vergisst. Und dann die um­fassende Hilfsbereitschaft, mit der alle Hamburge­rInnen beitrugen, das Unglück zu bewältigen!

In seiner Gedenkrede offenbarte Bürgermeister Paul Nevermann unfreiwillig, aber treffend das Prinzip hamburgischer Verfälschung der Geschichte. "Nur in den Bombennächten des Jahres 1943 und in der Feuersbrunst des Jahres 1842 wurde unsere Stadt von Heimsuchungen getroffen, die so schwer waren , wie dieser letzte Schlag". Da fehlt doch was! Die Cholera 1892 forderte 8.600 Tote, weil der Senat die Hafengeschäfte (Auswandererschiffe) nicht durch Quarantäne stören wollte, und weil ihm jegliche Gesundheitsvorsorge zu teuer war. Von Robert Koch gebrandmarkt "meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin", wurde die Cholera aus der Geschichte exkludiert. Bis nach hundert Jahren durch das Buch des Engländers Richard Evans die hamburgische Gesellschaft die Katastrophe nicht mehr ignorieren konnte.

Noch besteht die Chance, die wahre Geschichte der Sturmflut aufzuklären. Es muss noch Zeitzeugen geben, wo, wann und von wem die fatalen Entscheidungen getroffen wurden, die Stadt nicht vor Sturmfluten zu schützen. Es sollte HistorikerInnen geben, die dem Beispiel des Stubbe da Luz nacheifern, Senatsdrucksachen, Bürgerschaftsprotokolle und Zeitungsarchive zu durchforsten. Es sollte nicht hundert Jahre dauern wie bei der Cholera.

Quellen

Gesetz über den Aufbauplan der Freien und Hansestadt Hamburg vom 16. Dezember 1960

Ausschuss von Sachverständigen, Vorsitz Otto A. Friedrich: Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe; Hamburg, April 1962; gedruckt bei Lütcke & Wulff.
Karte des Berichts Deichbrüche, Überflutung und Zahl der Opfer (bearbeitet von RdE)

Große Katastrophen in Hamburg: Menschliches Versagen in der Geschichte – wehrhafte Stadtentwicklung für die Zukunft?; Helmut Stubbe da Luz. Begleitband zur Ausstellung; Herausgegeben von der Bibliothek der Helmut-Schmidt-Universität. – Hamburg 2018. ISBN 978-3-86818-094-7; Schutzgebühr 20,– Euro

Stadt unterDER SPIEGEL; https://www.spiegel.de/politik/stadt-unter-a-dabb29d6-0002-0001-0000-000045139168?context=issue

Hamburger Abendblatt: "Das war die große Flut"; Sonderausgabe 12. März 1962

Hamburger Morgenpost: War Helmut Schmidt wirklich der große Retter? - Die Nacht, in der Hamburg unterging; in der Reihe "Unser Hamburg", Heft 2/2021

Evans, Richard J.: "Tod in Hamburg – Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910"; Rowohlt-Verlag; Reinbek, 1990.

RdE zum 50sten Jahrestag der Sturmflut 1962

UMWELTATLAS HAMBURG - Landgewinnung und Eindeichungen


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